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Episode 4: Erntezeit | MAGIC: THE GATHERING

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Ein dreimaliges Klopfen an Olivia Voldarens Tür reicht aus, damit sie bereit ist, jemanden umzubringen. Nicht, dass sie jemals nicht dazu bereit gewesen wäre, jemanden umzubringen, doch manchmal sind die Leute gewillt, die Sache zu beschleunigen – und was soll sie dann schon machen? Man kann sich solche Sachen nicht einfach gefallen lassen. Das regt das Gesinde nur zum Aufbegehren an. Und zwar nicht auf die unterhaltsame Art.

„Herein! Es ist meine Zeit besser wert!“, ruft sie. „Ich ertrage es nicht, wenn mein Schönheitsschlaf unterbrochen wird.“

Sie öffnet die Augen nicht, denn wenn sie es täte, würde alles hier verrutschen. Es hat ganze fünfzehn Minuten gedauert, dieser Jungfrau das Gesicht abzuziehen, und Olivia hat nicht vor, es zu verschwenden. Man muss dem Blut Zeit lassen, sich zu setzen und einem so richtig Farbe zu verleihen.

„Meine teuerste und mächtigste Dame Olivia Voldaren.“

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Ja. Gut.

„Ich bringe Kunde von den Menschen.“

Ihr Lächeln und ihre gute Stimmung verpuffen. Sie runzelt die Stirn, sorgsam darauf bedacht, das Gesicht der Jungfrau, das über ihrem eigenen liegt, nicht zu zerknautschen. „Ist dies wichtige Kunde?“

„Das möchte ich meinen“, sagt der Bote. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, handelt es sich wohl um Feuer. Hat er nicht einige Knochen neu anzuordnen? Olivia ist noch nie einem besseren Beschaffer beinernen Mobiliars begegnet, doch warum ist er hier? „Sie führen etwas im Schilde. Sie versuchen, das Gleichgewicht von Tag und Nacht wiederherzustellen, glaube ich.“

Sie hebt zu einem Ächzen an und hält sich dann zurück. Du darfst die Maske nicht zerknautschen, Olivia. Es hat so viel Mühe gekostet, sie zu beschaffen. „Und wie kommst du darauf, dass sie das vorhaben?“, fragt sie. Als sie gestikuliert, spritzt das Blut, in dem sie ruht, wie Badewasser. „Es ist ja nicht so, dass sie die Sonne einfach in Ketten legen könnten.“

„Schönste und mächtigste Dame Voldaren, ich glaube, sie nutzen ein Fest dazu.“

„Ein Fest.”

„Ja, ein Fest“, wiederholt er mit trotz ihres Unglaubens fester Stimme. „Ich habe kürzlich Gaven besucht. Auf der Suche nach bestimmten körperlichen Materialien –“

Warum sagt er nicht einfach „Knochen“?

„– als sich mir ein höchst sonderbarer Anblick darbot: Abbilder von Vampiren. Große, abscheulich geschmückte Nachbildungen unserer selbst, und selbst Ihr gepriesenes, unbeschreibliches Antlitz war darunter.“

MeinAntlitz? Das ist ungeheuerlich.“

„In der Tat, liebreizendste und mächtige Dame Voldaren, das ist es. In meiner weisen Verkleidung als umherstreifender Söldner erkundigte ich mich, wozu diese Vorbereitungen dienten. Eine Frau verriet mir, sie wären für das Erntezeitfest. Ich dankte ihr und tötete sie auf der Stelle, bevor ich das Abbild verbrannte.“

Olivia runzelt die Stirn. „Du hast es verbrannt? Feuer, benutz doch einmal deinen Verstand. Du hättest es hierherbringen sollen. Wir hätten es für den Empfang gut gebrauchen können.“

Ein leises Beben vor Furcht stiehlt sich in seine Stimme. „Sehr wohl, meine wunderbarste und mächtigste Dame Voldaren. So soll es beim nächsten Mal geschehen“, sagt er. Er räuspert sich. „Aber es mag Sie vielleicht interessieren, mehr über die Methode zu erfahren. Als ich ein Exemplar ausgrub, wurde ich einer Gruppe Reisender ansichtig: Es schien sich um Fremde zu handeln, doch ich erkannte ihre Anführerin. Arlinn Kord –“

„Uff. Dieser Straßenköter.“

„Eben jene. Sie führt die Suche an. Weiterhin war da eine Frau mit brennendem Haar –“

Olivia seufzt dramatisch.

„– die unaufhörlich nach etwas fragte, was sie den Mondsilber-Schlüssel nannte. Sie wollte ihn sich genau ansehen, woraus ich schlussfolgerte, dass sie ihn bereits haben.“

Ah, dieses alte Ding. Die Menschen müssen verzweifelt sein, wenn sie das ausgraben. Olivia setzt sich auf. „Erntezeit, sagst du?“

„In der Tat: Erntezeit. Was soll getan werden? Soll ich unsere Extraktionsspezialisten zurate ziehen?“

Olivia kaut gedankenverloren auf ihrer Lippe – und damit auch der der Jungfrau – herum. „Das ist nicht nötig. Lassen wir die Dinge ihren Lauf nehmen.“

„Aber, Dame Voldaren –“

„Liebreizendste und mächtigste Dame Voldaren“, korrigiert sie ihn. „Feuer, wenn du sehen würdest, wie jemand ein Exemplar an sich bringt, das du begehrst, was würdest du dann tun?“

Er summt nachdenklich. „Ich würde ihn töten.“

Er spielt überhaupt nicht mit. „Ja. Ganz offensichtlich. Aber wann würdest du ihn töten?“

„Augenblicklich“, antwortet er. „Es wäre ein persönlicher Affront.“

Olivia lacht. „Und hier denkst du zu kurz, mein lieber Junge“, sagt sie. Endlich zieht sie die Maske von ihrem Gesicht und reibt das Blut in ihre durstige Haut. „Unterbrich niemals jemanden dabei, die Arbeit für dich zu erledigen.“


Unter den versammelten Festbesuchern gibt es nur einen Gedanken: Innistrad muss fortbestehen.

Aus allen Teilen der Welt sind sie an diesen Ort geströmt: aus den nahen Hügeln Kessigs, aus den vielstöckigen Türmen und düsteren Mooren Gavens, aus den Häfen und Tunneln Nefalens, aus den sonnenlosen Straßen und verworrenen Türmen Stenzens: Sie alle sind gekommen. Mit ihren Puppen, ihren Kerzen und ihren Körben voll kurzlebiger Blumen und Früchte führt ihr feierlicher Zug unter den reglosen Armen des uralten Celestus hindurch.

Innistrad muss fortbestehen. Dies kann nicht das letzte Mal sein.

So spricht die Person, die die Kürbisse schnitzt, zu der Kinderschar vor sich. „Was kann ich für euch anfertigen?“, fragt sie, und die Kinder sagen, sie wollen die Sonne sehen. Eine Sonne. Dann also eine Sonne: Die Hände, die den Kürbis schnitzen, bewegen sich voller Anmut und Hoffnung und Freude. Die Frucht ist bereits ausgehöhlt, kommt es als Erklärung, und das ist das Wichtige bei Vorbereitungen in Zeiten wie diesen: Man muss vorausdenken. Hört auf eure Lehrer, und sie werden euch das Gleiche sagen. Hier sind die Strahlen, und hier ist die Sonne. Kürbisschnitze fallen auf die reifbedeckte Erde. Eine Kerze in die Mitte. Die Person, die den Kürbis schnitzt, gebietet selbst über die Kräfte einer Hexe, und ruft eine Kerze aus jenen herbei, die schon über ihr und den Kleinen schweben.

„Wünsch dir was“, sagt die Hexe zu dem Kind. „Was auch immer du willst und so groß, wie du willst.“

Und das Kind wünscht sich natürlich, dass die Sonne für immer scheint, doch das sagt es der Hexe nicht. Wenn man seine Wünsche verrät, gehen sie nicht in Erfüllung.

Die Hexe sagt dem Mädchen, dass es das Kerzenwachs berühren soll. Sonne und Mond formen sich an der Stelle, die das Mädchen sich ausgesucht hat, und es schnappt nach Luft, und die Hexe lächelt. Und hinein in den Kürbis. Sie reicht dem Mädchen das fertige Werk.

„Hier“, sagt sie. „Eine Sonne, nur für dich. Eine Sonne, die nie verlischt. Fröhliches Erntezeitfest!“

Und das Mädchen huscht davon, trägt stolz seine eigene Sonne und glaubt, dass die Welt ein bisschen heller ist. Und das ist sie.

Besonders deshalb, da nun jeder seine eigene Sonne haben will.

Die Hexe Deidamia beobachtet das Mädchen und sagt zu sich: Deshalb muss Innistrad fortbestehen. Deshalb kann es nicht das letzte Mal sein.

Katilda sagt, das wird es auch nicht sein.

Deidamia blickt zum Celestus auf und hofft, dass das die Wahrheit ist. Und diese Hoffnung muss genährt werden und ebenso weiterleuchten wie die Kerzen.

Selbst wenn es nur zur Freude dieser Kinder ist.

Ein leichter Frost legt sich über das Geschehen. Nur ein paar Schritte entfernt führen Hexen trotzige Gesänge an und entlocken verhaltenen Stimmen Melodien. Zwei Stände weiter hält Shana, eine Freundin von Deidamia, einen Becher mit gewürztem Apfelwein in die Höhe. Dem Fest mag ein grimmiger Geist innewohnen und vielleicht werden sie alle in wenigen Monden sterben, wenn die Sonne nicht wieder an ihrem angestammten Platz ist, doch fürs Erste ist da die Freude über Gewürzwein.

Deidamia nickt. Shana flüstert rasch einen Zauber und lässt den Becher zu Deidamias Tisch hinüberschweben. Deidamia trinkt rasch einen kleinen Schluck, während eine weitere Sonne geschnitzt wird. Shanas Blick verrät, dass sie mehr darüber sprechen will, was geschehen wird, und wie lange sie wohl noch warten müssen, bevor sie ihre Masken aufsetzen, doch Katilda ist mehr als deutlich gewesen: Wartet auf den Schlüssel. Haltet bis dahin die Augen offen und sorgt dafür, dass die Festbesucher sicher sind.

Und so mustert Deidamia die Menge und die Bäume und die Talismane, während weitere Sonnen für die Kinder eingefangen werden. Deidamias Werk ist allerdings auch für die müden Gesichter der Eltern, die hinter ihrem Nachwuchs stehen.

Deidamia erspäht die Helden nicht als Erstes, sondern Shana. Ihr aufgeregter Ruf lässt von überallher Jubel ausbrechen. Die Barden wechseln zu einer fröhlichen, triumphierenden Melodie, um sie willkommen zu heißen. Die Menge wird so dicht, dass Deidamia die Helden nicht einmal wirklich sehen kann, denn sie sind am anderen Ende des Festplatzes eingetroffen. Es steigt jedoch ein aufregender Flammenstoß auf. Zu ihnen zählt auch eine Pyromagierin, oder nicht?

Der Junge, der gerade auf seine eigene Sonne wartet, ruft Deidamia zu, dass Eile angebracht ist, und so wird sich denn nun auch beeilt. In dem Augenblick, in dem der Kürbis den Tresen berührt, verschwindet der Junge, um sich die Helden anzusehen. Und auch der Rest der Menge ist verschwunden. Zum ersten Mal seit Beginn des Fests befindet sich ein leerer Tisch vor Deidamia.

Auch Shanas Tisch ist leer. Deidamia kann nicht widerstehen, den Helden auf ihrem Weg zum Celestus einen Blick zuzuwerfen – ein wenig mehr Apfelwein wird sicher nicht schaden. Und Shana wird das bestimmt verstehen, oder?

Deidamia macht ein paar Schritte und gießt sich einen neuen Becher ein, und in eben jenem Augenblick, als der Duft nach Äpfeln die Luft erfüllt, spürt Deidamia den vertrauten, scharfen Schmerz eines Talismans, der zerbricht.

Das Heulen setzt kurz darauf ein.


Vielleicht sind es all die Äpfel. Vielleicht sind es all die Gewürze. Vielleicht sind es all die Kürbisse. Oder vielleicht ist es der gemeinsame Duft Tausender von Menschen, die sich versammelt haben, um dem Tod ins Auge zu blicken.

Was auch immer es ist: Arlinn kann ihr Kommen nicht riechen.

Sie weiß nicht, dass es geschieht, bis es zu spät ist, sieht nicht, wie sie gegen die Barrieren hämmern, bis die Schamanenwölfe bereits auf sie eindringen, hört das Heulen nicht, bis die Angreifer schon das Tor erreichen. Dankbarer Jubel verzerrt sich zu angstvollen Schreien. Die Kinder, die sich versammelt haben, um sie zu sehen, fliehen an die Seite ihrer Mütter.

Auch die Hexen rufen, setzen ihre Masken aus Holz und Knochen auf und leiten die Menge tiefer in die ehrfurchtgebietenden Arme des Celestus. „Hier ist es nicht sicher – ihr müsst gehen!“

Und die meisten Leute hören auf sie und werden zu einem gewaltigen Fluss aus Fleisch und Furcht, strömen über die sorgsam errichteten Stände und Tische hinweg und zertrampeln Kürbisse und Holunder und Flaschen voll Apfelwein. Ist es Blut oder Wein, der die Erde Kessigs tränkt? Wer kann das schon sagen? Alles, was zählt, ist, dass die Wölfe am Tor sind und der Celestus damit wie in weiter Ferne.

Arlinn kann sie nun sehen: Die Schamanen des Heulerrudels stehen inmitten der Bäume, gekleidet in die gefärbten Felle ihrer Beute. Das dumpfe, scharlachrote Leuchten ihrer Magie wird heller und heller, während sie ihre Zauber wirken. Die Schnellsten von ihnen rennen in hungrigen Kreisen um die Ränder der Barrikade, und unmöglich große Raufer ragen drohend auf: Wölfe in harter Lederrüstung.

Sie kann sie alle sehen, und es müssen Hunderte sein.

Ihr schnürt sich die Brust zu.

„Arlinn“, sagt Kaya. „Wir stecken ziemlich in der Klemme, oder?“

„Nicht solange wir die Menschen retten können“, sagt Arlinn. Ihre Stimme klingt angespannter, als ihr lieb ist. Sollte eine Anführerin nicht zuversichtlicher klingen? „Kaya, nimm den Schlüssel. Sorg dafür, dass er Katilda erreicht.“

„Verstanden“, meint sie. Das muss man Kaya nicht zweimal sagen: Kaum reicht Teferi ihr den Schlüssel, verschwindet sie und verblasst im Nebel. Gut, so werden die Wölfe sie nicht finden.

Ein Kloß bildet sich in Arlinns Kehle, doch dafür hat sie jetzt keine Zeit. Rotes Leuchten taucht das Entsetzen der Menge in grausige Schatten. Ein Lykanthrop, nur wenig kleiner als ein Belagerungsturm, hämmert mit der Faust gegen den Rand der magischen Barriere.

Knack.

Arlinn kann den Blick nicht von der Horde abwenden – von den Wölfen, die gemeinsam mit den Lykanthropen umherziehen. Wenn sie lange genug hinsieht, wird sie gewiss bekannte Gesichter sehen, und der Gedanke erfüllt sie mit Grauen. „Chandra, Adeline –“

„Das musst du uns nicht sagen“, meint Chandra.

Und tatsächlich muss sie das nicht. Adeline, die bereits aufgesessen ist, streckt Chandra eine Hand hin und hilft ihr in den Sattel. Ohne ein weiteres Wort machen sich die beiden zur Front auf.

Beschützerin und Leuchtfeuer in allen Dingen zu sein: Das ist der Kern des Glaubens, der Arlinn vorwärtstreibt. Und es gibt keine bessere Zeit, eine Beschützerin zu sein, als jetzt.

Warum also sehnt sich ein Teil von ihr davon, sich ihnen anzuschließen? Warum schlägt ihr wildes Herz in ihrer Brust und wehrt sich gegen ihre sorgsame Beherrschung?

Bald fällt ihr Blick auf die Antwort.

Er ist hier.

Knack. Knack. Knack.

Über ihr zerspringt Magie wie Bleiglas. Sie sieht zu dem Riss auf, während ihr Blut die Kleidung durchtränkt und Tränen ihr die Wangen hinabrinnen.

Wie eine Welle an den Felsen Nefalens brechen die Wölfe über die fliehenden Festbesucher herein. Blut sprüht durch die Luft, Knochen brechen unter den mächtigen Kiefern verwandelten Todes, ein Heulen, das Selbstverachtung und Hunger in ihr aufflammen lassen.

„Arlinn.“

Das Schlagen von Kriegstrommeln übertönt beinahe Teferis Stimme neben ihr, doch seine Hand, die ihre Schulter drückt, holt sie zurück. Sie schüttelt den Kopf und zieht die Brauen zusammen. „Teferi, ich muss … Da sind Leute, um die ich mich …“

„Ich weiß“, sagt er. Und auch er klingt furchtsam, doch da ist auch ein Mut in seiner Stimme, der ihr selbst welchen verleiht. „Ich wollte dir sagen, dass ich dir einen langen Sonnenuntergang schulde.“

Ihre Augen verengen sich, aber er pflanzt bereits seinen Stab in die Erde und wirft ihr schon ein Lächeln zu, das von jener Zuversicht kündet, die er tief in sich angefacht hat. „Hexen des Morgenlichtzirkels!“, ruft er laut, „Lassen wir diesen Ritus beginnen!“

Sobald sein Stab die Erde trifft, breitet sich eine Schockwelle aus und jeder Muskel in Teferis Körper versteift sich ob der Anstrengung. Als er sie ansieht, weiß sie, dass sie diese geliehene Zeit nicht vergeuden darf.

Ihre Träume sterben mit jedem Wimpernschlag – genau wie die letzten Strahlen des allerletzten Sonnenuntergangs auf Innistrad.

Sie muss tun, was sie kann.


Adeline ist die geborene Anführerin.

Während sie durch die behelfsmäßigen Schlachtreihen spurtet, erkennt Arlinn dies deutlicher als je zuvor. Die versammelten Wachen befolgen ihre Befehle, als wäre es so natürlich wie das Atmen. Gruppen von Katharern stehen – mit Schwertern und Schilden bewaffnet – Rücken an Rücken und treiben ihre Waffen in die mächtigen Brustkörbe der Wölfe. Als sie ihnen befiehlt, innezuhalten, fallen sie zurück und bilden einen Schildwall, hinter dem sich die verbleibenden Festbesucher verstecken können.

Tovolar gibt keine solchen Befehle. Das muss er nicht, wie Arlinn wohl weiß: Er ist für die wilde Jagd hier, und die kennt keine Regeln. Wer an seiner Seite läuft, hört auf den wilden Gesang des eigenen Herzens und folgt ihm bis zu seinem natürlichen Ende. Das hat sie auf der Jagd mit ihm gelernt. Man dachte, er sei still, weil er stumm wäre, doch in Wahrheit war er schon immer froh gewesen, der Natur ihren Lauf zu lassen.

Und den nimmt sie – hier schneller als je zuvor. Die Befehle, die Adeline ruft, die Feuerstöße aus Chandras Handschuhen, die unmöglich goldenen Strahlen der Sonne: Ohne diese Dinge hätten die Menschen keine Chance. Selbst in ihrer menschlichen Gestalt sind die Lykanthropen zu stark, um sie bekämpfen zu können. Selbst in ihrer menschlichen Gestalt sind die Schreckenswölfe größer als jeder Schmied und wilder obendrein. In gewisser Weise ist es ein Segen, dass sich die Mehrheit erst noch verwandeln muss. Es ist eine Sache, mit Waffen fertigzuwerden, die von zwei starken Armen geschwungen werden, und eine ganz andere, es mit lebenden Mauern aus Muskeln zu tun zu haben.

Doch das heißt nicht, dass es einfach wäre. Zu ihrer Rechten lässt ein Schreckenswolf seinen Hammer auf einen Schildwall der Katharer herabfahren und wirft drei Männer flach auf den Rücken. Wieder und wieder saust der Hammer nieder. Die Katharer stöhnen vor Schmerz und Anstrengung und verschanzen sich hinter ihren Schilden, sosehr sie es nur können.

Nur ein eigenartiges Ruckeln hält sie am Leben. Eines der seltenen schönen Ereignisse in Arlinns Kindheit war der Besuch eines reisenden Händlers gewesen. In seinem Sortiment befand sich eine Art papierner Laterne mit Schlitzen an den Seiten. In ihrer Mitte ein Katharer auf einem Pferd. Man konnte die Laterne drehen und dann den Katharer „reiten“ sehen. Keine Magie. Das schwor er. Nur ein Trugbild aus Licht. Arlinn wollte unbedingt eine haben, doch sie wusste, dass ihre Eltern sie niemals würden bezahlen können. Die seltsamen Bewegungen des Katharers – die Art, wie sie aussetzten und wieder begannen – entzückten sie.

Der Schreckenswolf bewegt sich auf die gleiche Weise. Er hebt den Hammer über den Kopf, lässt ihn niederfahren – es gibt kostbare Sekunden innerhalb seines Schwungs, in denen er vollständig aufhört, sich zu bewegen. Genug, dass die gefallenen Katharer sich aus dem Weg winden können. Selbst der Schatten des Schreckenswolfs passt nicht zu seiner Bewegung.

Teferi. Sie muss ihm danken, wenn es vorbei ist.

Aus einem Reflex heraus ruft Arlinn nach ihren Wölfen, doch sie werden nicht antworten. Das weiß sie. Es sind zu viele Wölfe unter den Angreifern. Die Natur hat ihre Seite gewählt.

Also wird Arlinn die der Menschen wählen.

Sie klaubt den Streitkolben eines gefallenen Katharers auf und wirft sich dem Schreckenswolf entgegen. Ganz gleich, wie viel Kraft einem Muskeln auch verleihen: Gelenke sind immer schwach. Er ist zu beschäftigt, seine auserkorenen Opfer anzuheulen, um den Streitkolben zu bemerken, der auf seine Kniekehle zusaust. Sie legt ihr ganzes Gewicht in den Hieb, und ein Knirschen und ein Aufjaulen sind ihre Belohnung. Der Schreckenswolf sackt zusammen, und die Katharer stehen hinter ihm auf.

Der Schreckenswolf knurrt. Seine Gestalt mag menschlich sein: Seine Augen verraten ihn. Sie sind bereits halb verwandelt, zusammen mit seinen zu langen Eckzähnen. „Du. Tovolars Liebling.“

Arlinn runzelt die Stirn. „Du weißt nichts von mir“, antwortet sie und hebt den Streitkolben. „Verschwinde von hier, solange du noch kannst. Diesen Kampf wirst du nicht gewinnen.“

Grollendes Lachen entringt sich seiner gewaltigen Brust und lenkt ihn von den Schwertern der Katharer ab. Der erste Treffer, bei dem die Klinge sein Bein durchbohrt, bringt ihn noch nicht ins Wanken, doch der zweite in sein bereits verletztes Knie lässt ihn aufheulen. Beim dritten zwischen seine Rippen krümmt er sich, doch nicht ehe er den Kopf des letzten Angreifers, der sich viel zu dicht an ihn herangewagt hat, in seine gewaltigen Hände nehmen kann.

Arlinn wartet nicht.

Der Streitkolben trifft auf Knochen.

Danach ist alles, was sie tun kann, mit blutigen Händen ein Gebet zu murmeln. Als die Katharer ihr danken, fühlt es sich nicht so an, als hätte sie etwas Gerechtes oder auch nur Richtiges getan.

Nichts hiervon ist richtig.

Tovolars Liebling.

Sie rennt tiefer ins Gewühl hinein.

Sie rennt, weil es falsch ist, und sie weiß, dass es falsch ist: Sie war nie sein Liebling. Und wie hätte sie das auch sein können, nachdem sie ihn nach zwei Jahren unter seinen Fittichen vernarbt und blutend zurückgelassen hatte und mitten in der Nacht davongelaufen war?

Sie will vor der Erinnerung fliehen, doch die Erinnerung ist eine hervorragende Jägerin. Das Blut unter Arlinns Füßen ist wie das Blut in jener Nacht. Die Schreie der Festbesucher sind wie die Schreie der Förster Kessigs. Das Blut an ihren Händen ist nie wirklich ganz verschwunden.

„Können wir nicht mehr sein als das?“, hatte sie ihn gefragt.

Doch für ihn ist dies genau das, was sie sind, was sie war, was sie immer sein wird.

Da ist nicht mehr als das: Blut auf der Erde, der Geschmack von Fleisch, der Duft von Angst.

Arlinn schluckt. Die Leichen, die sie sieht – die Menschen, die sie sieht –, sind genau wie jene Förster.

Und da ist wieder Tovolar. Inmitten des Chaos des Überfalls steht er still. Seine Augen sind heller als die Feuer, die nun im Wald lodern, und ihr Blick ist geradewegs auf sie geheftet.

„Tovolar!“, ruft sie. „Lass das aufhören!“

Er grinst und schüttelt den Kopf. „Nein.“

Tovolar, Geißel der Mitternacht
Tovolar, Geißel der Mitternacht | Bild von: Chris Rahn

Mit dem Streitkolben noch in der Hand marschiert sie los. Hinter ihr dauert das Chaos an. Katharer schneiden in die Kehlen von Lykanthropen, Hexen schützen die Ausreißer, gepanzerte Krieger stellen sich wacker ihren Gegnern. Chandras Feuer tauchen die Szene in bernsteinfarbenes Leuchten.

„Die Sonne ist beinahe schon untergegangen, Arlinn. Noch ist Zeit, dich uns anzuschließen“, sagt er. Er nimmt keine Notiz von der Waffe in ihrer Hand oder zumindest jagt sie ihm keine Angst ein.

Doch das sollte sie.

Mit einem tiefen, gutturalen Knurren holt sie aus.

Tovolar fängt den Kopf des Streitkolbens ab.

„Warum sollte ich mich dir jemals anschließen wollen?“, schnaubt sie. Sie legt mehr und mehr Gewicht in ihren Streitkolben, doch er hält ihn mühelos fest.

„Das hast du einst“, antwortet er. Er stößt den Streitkolben zurück und bringt sie jäh aus dem Gleichgewicht. „Dies war dein Ort.“

„Du hast nicht das Recht, über meinen Ort zu entscheiden“, sagt sie. Ein weiteres Ausholen mit dem Streitkolben – diesmal fängt er ihn am Heft ab und ringt ihn ihr aus den Händen. Die Waffe fällt herab und scheppert gegen den Schild einer toten Wache, doch Tovolar achtet nicht weiter darauf.

Die Sonne sinkt tiefer. Selbst Teferi kann sie nicht ewig aufhalten.

Er starrt sie an, und sie starrt ihn an.

„Sie mögen dich nur, weil sie glauben, du wärst wie sie“, sagt er. „Aber ich weiß, dass du das nicht bist.“

„Du kennst mich nicht“, schreit sie ihn an.

Und dieses Mal ist er es, der sie angreift – mit einem weit ausladenden Klauenhieb. Arlinn duckt sich darunter hinweg, doch er zieht sie nur dichter zu sich heran – bis zu dem Rand jener Narbe, die sich von seiner Schulter zu seiner Hüfte erstreckt. „Bist du dir da sicher?“

„Das bin ich“, sagt sie, kurz bevor ihre Faust seinen Kiefer trifft. Der Schmerz, der ihr beim Aufprall den Arm hinaufzuckt, ist es mehr als wert, als sie sieht, wie das selbstgefällige Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet. Sie legt einen zweiten Schlag nach, und noch einen, und lässt ihn zurücktaumeln. „Beende dies, Tovolar. Noch ist Zeit.“

Blut trieft ihm über die Zähne. Er spuckt auf die Erde. „Du machst Witze.“

„Keineswegs“, sagt sie. „Beende dies. Lass uns den Ritus zu Ende bringen. Hol dir die Nächte zurück, jage so viel, wie du kannst, aber lass die Menschen da raus.“

„Und wie, meinst du, werden sie das aufnehmen?“, fragt er und steht auf.

„Sie wären am Leben“, antwortet sie. „Das ist es, was zählt.“

Er kommt erneut auf sie zu. Dieses Mal ist sie vorbereitet. Arlinn fängt seine beiden Fäuste mit ihren Handflächen ab. Ihre Muskeln ächzen vor der Anstrengung, ihn in Schach zu halten, doch sie gräbt die Hacken in den Boden – das kann so nicht weitergehen.

„Siehst du, wohin dich das führt? Deine Wölfe kennen die Wahrheit. Wir gegen sie. So war es schon immer.“

Sie kennt das Heulen, das folgt. Sie kennt das Knurren, weiß, was sie sehen wird, wenn sie den Blick von ihm losreißt. Also sieht sie nicht hin. Sie erträgt es nicht. Ihre Brust schmerzt schon genug, da es sich anfühlt, als hätte man ihr das Herz herausgerissen. Die Wölfe zu sehen, würde ihr dasselbe Herz nur schwer werden lassen.

Und sie kann sich keine Ablenkung erlauben. Sie kneift die Augen zusammen und rammt ihre Stirn gegen seine Nase. Er gerät lange genug ins Straucheln, dass sie ihm einen weiteren Schlag versetzen kann.

Das Kräuseln, das über seinen Körper zuckt, verrät ihr, was sie befürchtet hatte: Die Zeit läuft ihr davon. Tovolars blutige Zähne werden länger und länger, sein Grinsen wirkt umso unbehaglicher, da es sich nun auf einer Schnauze zeigt. Überall um sie herum facht das Heulen der anderen, die der Verwandlung nachgeben, das Chaos weiter an.

„Arlinn! Wir brauchen Hilfe!“

Chandras Stimme ist leicht auszumachen. Weniger jedoch die Antwort. Während sie Tovolar anstarrt, ist das Beste, wozu sie imstande ist: „Ich arbeite dran. Konzentriert euch darauf, alle in Sicherheit zu bringen!“

Er wird größer und größer. Ihr eigener Körper ringt um Beherrschung. Ihre Zähne schmerzen und ihre Hände zittern vor ungenutzter Energie, während sie nach einer anderen Waffe tastet. Das Schwert, das eine gefallene Wache umklammert, kommt ihr gerade gelegen. Später wird sie ein Gebet für den Mann sprechen.

Doch jetzt? Jetzt ist es besser, erst einmal zu überleben.

Da ist eine Freude in Tovolar, als er nach ihr ausholt, Entzücken in den Schlägen, die er ihr zu versetzen versucht – wild und rückhaltlos. Jeden fängt sie mit der flachen Seite ihrer Klinge ab. So schnell, wie er in dieser Gestalt ist, ist das Beste, was sie tun kann, ihn abzuwehren, und es dauert nicht lange, bis ihr der Arm schmerzt, die Schulter, der Rücken und ihre müde, müde Seele. Ihre nachlassende Wachsamkeit beschert ihm eine Gelegenheit: Seine Klauen reißen ihr die Wange auf. Der Geruch von Blut überlagert beinahe den Schmerz. Ihre Nüstern zittern, sie schmeckt Kupfer und ein tiefer, urtümlicher Hunger droht, ihre sorgsam erlangte Beherrschung zu überwältigen.

Doch das tut er nicht.

„Du bist ein Wolf, Arlinn“, schnaubt er, die Worte verzerrt von der unmenschlichen Form seines Mauls. „Ganz gleich, wie sehr du versuchst, es zu verleugnen!“

„Ich habe nie gesagt, dass es nicht so ist“, antwortet sie.

Er dringt erneut auf sie ein, macht einen Satz auf sie zu und sie hat Mühe, ihn sich vom Leib zu halten.

„Dann zeig es mir!“

Er bäumt sich auf, und die Narbe, die sie ihm geschlagen hat, ist nun deutlich zu erkennen, selbst in dem schwindenden Licht. Sie zu sehen, bringt sie zurück an jenen Ort: Zu Tovolar, wie er sie drängt, Menschen zu töten, um zu beweisen, dass sie eine von ihnen ist. Eine unmögliche Wahl. Eine einfache und schmutzige Lösung. Alles, was sie hatte tun müssen, war, ihn zu töten, oder nicht? Und dann wäre sie die Alpha des Heulerrudels gewesen.

Doch so spielte es sich nicht ab. Er starb nicht, und sie gewann nicht. Sie beide trugen die Narben, die davon zeugten.

Ihre brennen. Alles an ihr brennt. Im Getümmel des Kampfes hört sie die Trommeln, die in jener Nacht geschlagen worden waren, als sie ihn herausgefordert hatte. Genau wie damals sind die Augen des Rudels auf sie gerichtet, und genau wie damals steht sie allein und ohne Freunde da. Und genau wie damals ist sie im Recht und er tragisch fehlgeleitet.

Ein Krampf lässt ihren Arm zittern. Die Muskeln in ihm strengen sich an, mehr zu sein, als sie sind, doch sie umklammert die Gliedmaße mit der freien Hand. Ein Gebet entringt sich ihren Lippen. Wenn sie das tun soll – wenn es an ihr ist, ihm aufzuzeigen, wie falsch er liegt –, kann sie nicht nachgeben. Sie kann sich nicht gestatten, zu –

„Gib nach. Warum hältst du dich zurück?“

„Weil … Weil es noch immer

Die Worte kommen nicht. Das Sprechen fällt ihr schwerer. Da ist wieder das Heulen. Ich bin bei dir. Schließ dich der Jagd an. Da ist wieder der Ruf von Fleisch und Knochen. Da ist wieder die schönste Freiheit, die sie kennt. So nah. So nah.

Sie kneift die Augen zu. Ihr Verstand kehrt zurück, und einen Augenblick später öffnet sie die Augen wieder, doch die Wölfe haben sie schon umzingelt.

Flitzer, Geduld, Rotzahn und Findling.

Sie alle starren sie an, sie alle blecken die Zähne – außer Geduld.

Sie drückt sich gegen Arlinns Bein, zupft an ihren Hosen, blickt zu ihr auf und bettelt: Sei bei uns. Schließ dich der Jagd an.

Würde Tovolar sie in Stücke reißen, würde es weniger schmerzen als dies. Wie kann sie vermitteln, was es bedeutet, sich der Jagd anzuschließen? Wie kann sie Geduld erklären, dass die Menschen, die ihnen stets mit Misstrauen begegnen, gut sind, und dass die Wölfe, die mit ihnen laufen und jagen und spielen, falsch liegen?

Sie taumelt. Tränen brennen ihr in den Augen. „Ich kann nicht“, krächzt sie.

Und das ist alles, was Findling hören muss. Getreu seinem Namen wirft er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie. Sie sackt zusammen und die Luft weicht ihr aus den Lungen, als ihre Rippen brechen. Mit dem Gesicht nach unten im Schlamm hört sie nur das Näherkommen ihrer Wölfe, spürt sie nur Tovolars Hand, die nach ihrem Haar greift.

„Wir bringen das jetzt zu Ende“, sagt er, „oder du stirbst hier.“

Er kniet auf ihrem Rücken und legt ihr die Klaue an die Kehle. Selbst zu atmen birgt schon die Gefahr, verletzt zu werden.

„Zeig mir die wahre Arlinn. Wir alle wollen sie sehen.“

Ist es das, was er will?

Dann wird sie es ihm zeigen.

Nicht, weil er es verlangt. Nicht, weil ihre Wölfe es so sehr sehen wollen. Nicht, weil sie etwas beweisen will.

Sondern weil er in gewisser Weise recht hat: Sie beide sind Wölfe, und sie erkennt nun, dass dies die einzige Weise ist, auf die es jemals enden kann.

Mit Blut und Zähnen und Klauen.

Die Sonne versinkt hinter dem Horizont. Der Tag verwandelt sich in die Nacht.

Und Arlinn Kord verwandelt sich mit ihm.

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